Falsche Glaubenssätze, oder: Wenn Sie Leute dafür bezahlen doof zu sein, dann sind sie auch doof. Lesen Sie, was agiler Führung in der Praxis oft entgegen steht.
von Andreas Karutz
Hinter den Kulissen von vorgeblich agiler Personalführung muss zu oft die Rhetorik den Inhalt ersetzen. Immerhin wird damit ein Anspruch formuliert
Auf der Tonspur ganz weit vorne
Wenn die Führung eines Unternehmens beginnt sich mit Agilität zu beschäftigen, kommen zwangsläufig agile Prinzipien wie Selbstorganisation und Selbstverantwortung zur Diskussion. Vordergründig hatte man das natürlich immer schon und jeder Personalverantwortliche würde alle Eide darauf schwören, dass genau diese Mitarbeiter gesucht und gefördert würden, nämlich selbstverantwortlich handelnde und verantwortungsvoll mitdenkende Menschen.
Taucht man unter die Ebene der Rhetorik sieht das schnell anders aus und es kommen Aussagen wie „Mitarbeiter brauchen eher mehr an Führung. Sie verlangen es sogar!“ und „Wie soll jeder Mitarbeiter wissen, was für die Firma wichtig ist?“, oft auch ein „Die Leute sollen einfach ihren Job machen.“
Daran ist immer einiges richtig und es kommt auch auf die Tätigkeiten im Unternehmen an. Agilität hilft vor allem in der Wissensarbeit wie z. B. Marketing, Produktinnovationen, Softwareentwicklung, Kampagnenmanagement oder F&E – eben in komplizierten und komplexen Umfeldern. In solchen Umgebungen hebt Agilität die Talente und Fähigkeiten einer Gruppe von Menschen über das Einzelkämpferniveau hinaus. So weit, so gut.
„Wollen Sie etwa die Chaostage bei uns einführen?“
So empörte sich mal halb ernst und halb spaßig ein Geschäftsführer in einer Diskussion über agile Teams und deren Entscheidungskompetenz. Nein, natürlich nicht. Unternehmerische Entscheidungen müssen nicht nur getroffen, sondern auch verantwortet werden. So hat ein Geschäftsführer als Organ der Gesellschaft die GuV und die Bilanz zu unterschreiben. Das ist keine Petitesse, sondern hat gegebenenfalls juristische Konsequenzen gegenüber Anteilseignern, Geldgebern, den Steuerbehörden und den Sozialversicherungen. Klar, dass man da nicht die Kontrolle über Budgets und Ergebnisse verlieren will – und auch nicht verlieren darf! Der Kapitän haftet nun mal.
Entsprechend sind Unternehmen üblicherweise hierarchisch organisiert und in ihrem Handeln nach oben orientiert. Das sorgt für Effizienz und Durchsatz in der Organisation und ermöglicht eine laufende Kontrolle. Ist doch gut, oder?
Nicht immer!
Ich habe oft erlebt, dass Mitarbeiter nicht nur detaillierte Stellenbeschreibungen, sondern sogar peinlich genaue Auflistungen ihrer zu erledigenden Tätigkeiten einfordern. Bei Unklarheiten werden rückversichernde Anfragen per Mail an die Führungskraft gerichtet, mit der Bitte um Präzisierung oder Entscheidung.
Ebenso werden fertige Arbeitsergebnisse für andere Bereiche des Hauses stets in CC an den Vorgesetzten weitergeleitet. Klappt irgendwas nicht, weil Informationen oder Vorleistungen aus anderen Abteilungen fehlen, wird darauf mit einer formellen Mail ebenfalls mit CC für die Führungskraft reagiert. Es regiert das Prinzip „Melden macht frei“: Wenn ich meinem Vorgesetzten alles sage, dann bin ich nicht verantwortlich und entscheiden will ich sowieso nichts.
Eingebunden ist das Ganze in eine wöchentliche Tätigkeitsplanung nach Stunden, die einerseits als Beleg für die eigene Arbeit und andererseits als Kontrollinstrument für die Führungskraft dient.
Bei Dingen außer der Reihe und vielleicht noch unter Stress (unbekannte Aufgaben, Zeitdruck, unleidiger Vorgesetzter) kommt es dann zur Panik. Betroffen davon sind Mitarbeiter aller Ebenen und Qualifikationen, auch Führungskräfte. Wer in einer solchen Arbeitswelt lebt und sozialisiert wurde hat naturgemäß Zweifel daran, dass es auch ganz anders sein könnte. So kann man sich das Berufsleben nachhaltig versauen.
Das liegt aber nicht an den Mitarbeitern.
Um es vorweg zu nehmen: Viele dieser Mitarbeiter leisten Erstaunliches in ihrer Freizeit. Da wird in Sportvereinen ausgebildet, in der freiwilligen Feuerwehr geleitet, werden Jugendlager organisiert, Vereine gegründet oder sonst was geschaffen. Jeder ein kleiner Held. Nur nicht in der Firma. Und das liegt an der Führung. Nicht am Führungsstil, sondern an der Führungsorganisation und der Kontrollfixierung mit ihren Sanktionsmechanismen.
Appelle helfen da erstmal nicht, man fängt buchstäblich bei null an.
Agiles Management
Die Unternehmensleitung braucht jederzeit eine schnelle und geeignete Übersicht über die Lage der Firma. Operative KPIs wie Auftrags- und Zahlungseingänge, offene Rechnungen, Forderungen, täglicher Finanz- und Liquiditätsstatus, Warenbestände, Kundenzahlen, Umsätze und ein ganzes Tableau weiterer Daten gehören dazu.
Ferner darauf aufbauende Standard-Analysen aus dem Controlling nebst Planabweichungen und Prognosen. Darüber braucht man nicht zu reden, es ist eben der benötigte Standard und es geht um den Profit. Auf die Erkenntnis folgt das Drehen an den Stellschrauben. Verantwortlich sind Mitarbeiter in im Organigramm verorteten Fachbereichen und Abteilungen. So zieht das Ganze seine Schleifen.
Möchte man sich als Unternehmensspitze nicht darauf reduzieren zu kontrollieren und anzuleiten, dann muss man anders führen. So kann man anfangen:
- die Firmenleitung definiert die wichtigsten Probleme, Herausforderungen und Chancen für das Unternehmen (die haben üblicherweise was mit Kunden, Konkurrenten, Technologie und der Leistungserbringung zu tun und sollten sich aus der SWOT-Analyse detaillieren lassen)
- statt diese Themen in der Linienorganisation unterzubringen macht die Firmenleitung daraus Aufgabenpakete, die von zu bildenden agilen Teams abzuarbeiten sind (das ist eine nicht unerhebliche Führungsleistung und wichtig für das Alignment)
- es werden die qualifizierten Personen identifiziert und die (crossfunktionalen) Teams zusammengestellt (die z. B. im Scrum-Frame arbeiten)
- die Führungskräfte organisieren bestmögliche Arbeitsumfelder, leisten fallweise Unterstützung (Ressourcen, fachliche Hilfe) und fördern die Vernetzung der Teams im Unternehmen
- Führungskräfte und Firmenleitung nehmen aktiv an der Arbeit der Teams teil. Sie informieren sich in den Team-Meetings, bringen sich mit Ideen in die Lösungsfindung ein (z. B. weil sie von den Teams angefordert wurden), oder sind als Stakeholder ohnehin eingebunden
- es gibt keine Genehmigungsschleifen oder formalisierte Entscheidungsprozesse
Für alle diese Punkte gibt es agile Methoden und Organisationsformen, mit denen man das unterstützend umzusetzen kann. Es beginnt aber mit der positiven Einstellung zum Wandel.
Ein besserer agiler Standard
Eine agil geführte und organisierte Firma bietet der Unternehmensführung den gleichen Grad an Einfluss und Übersicht wie eine klassische Leistungsorganisation. Es geht um die Erbringung von profitablen Leistungen für die Kunden und um betriebswirtschaftliche Stabilität.
Sind die entsprechenden Umfelder geschaffen, können sorgfältig zusammengestellte und selbstverantwortlich handelnde agile Teams in komplizierten oder komplexen Problemfeldern qualitativ bessere Lösungen erarbeiten als einzelne Manager oder Spezialisten es jemals könnten. Das Gegenteil anzunehmen und per Dekret zu regieren ist Kompetenzillusion.
Es mag vielleicht Genies geben, die in jeder Hinsicht überlegen sind. Wenn ein Unternehmen gerade kein Genie zur Hand hat, dann ersetzt es dieses sinnvollerweise durch ein qualifiziertes Kollektiv in einem agilen Umfeld. Nichts anderes ist beispielsweise ein crossfunktionales Team, für welche Aufgabenstellung auch immer.