Anonymisierte Fallstudie: Wie mit agilen Elementen und Methoden nachhaltige Verbesserungen in einer Organisationsstruktur erzielt wurden.
von Andreas Karutz
Wie man ohne alles auf den Kopf zu stellen ein Unternehmen mit agilen Prinzipien verstärken kann
Ausgangslage
Das vom Inhaber und drei weiteren Geschäftsleitungsmitgliedern geführte mittelständische Unternehmen ist ein F&E getriebener Produktionsbetrieb mit Verkaufsbüros in über einem Dutzend Ländern. Produziert werden Maschinen und Ausrüstungen in meist spezialisierten Formen (customized) für Unternehmen aus diversen Branchen. Entsprechend der Historie und dem Geschäftsmodell ist das Unternehmen dominiert von Ingenieuren und technischen Verkäufern. Wirtschaftlich war die Firma solide aufgestellt (Cash Flow, Eigenkapital, Rendite), was eine komfortable Ausgangslage für einen Veränderungsprozess ist.
Mit den wichtigsten Führungskräften (Geschäftsleitung und 1. Berichtsebene) wurden jeweils einstündige Gespräche zur Lage der Firma geführt. Dabei ging es nicht um Details, sondern um eine generelle Benennung der Kernthemen und deren Einschätzung. Sie erbrachten folgende Ergebnisse:
Das Geschäftsmodell wurde von der gesamten Führungsmannschaft nicht in Frage gestellt. Technisch sah man sich mit der Konkurrenz mindestens auf Augenhöhe. Die mangelnde Dynamik wurde als Folge von intensiver Selbstbeschäftigung, Gängelung und überzogener Kontrolle („Planungsirrsinn“) in Verbindung mit hochformalen Geschäftsprozessen gesehen.
In den anschließenden Analysen wurden die Problemzusammenhänge detailliert
In einem Führungskräfte-Workshop wurden die Diagnosen aus den Interviews in der Tiefe ausgelotet und bewertet, um die Eigensicht mit der Fremdsicht abzugleichen und dabei die konkreten Hebel und die versteckten Themen aufzudecken.
Geschäftsleitung
Der Prozess der Entfremdung zu den Bereichen hatte sich über Jahre entwickelt. Durch Personalwechsel in der Geschäftsleitung und einigen Fachbereichsleitungen waren die gewachsenen informellen Kanäle ausgetrocknet. Außer in offiziellen Meetings gab es keine Berührungspunkte untereinander. Insbesondere fehlten zwanglose Kontakte für Austausch, Diskussion und wechselseitige Inspiration.
Die Geschäftsleitung war durch die Integration zweier gekaufter Firmen im Ausland und den Aufbau einer Konzernstruktur zeitlich hoch belastet und nur noch selektiv im Tagesgeschäft vertreten. Die in den Jahren zuvor eingeführten Planungs- und Steuerungsprozesse sollten durch ihre formalen Regeln und Abläufe der Geschäftsleitung die ständige Kontrolle ermöglichen. Doch weder die Geschäftsleitung noch die Fachbereiche waren mit den Ergebnissen zufrieden (aus unterschiedlichen Gründen natürlich).
Fertigungsbereiche
Für die von Ingenieuren geleiteten Fertigungsbereiche wurde die Produktion technisch und organisatorisch als grundsätzlich gut funktionierend bewertet. Das Streben nach maximaler Kapazitätsauslastung entsprach der gängigen betriebswirtschaftlichen Logik von Effizienz und bestmöglicher Nutzung der Fixkosten.
Durch fehlende Redundanzen gab es Probleme bei Auftragsspitzen und bei den öfter notwendig werdenden, kurzfristigen Produktionsänderungen durch vom Vertrieb ausgelöste Versprechungen an Kunden. (Was ein klares Indiz für mangelnde Flexibilität der Produktion ist!) Ferner gab es Unzufriedenheit mit oder in den Querschnittsabteilungen Technischer Service und Qualitätssicherung.
Der Technische Service sollte in erster Linie Hotline für dringende technische Abhilfen sein. Allerdings wurde sie von den (technischen) Kunden auch als Beschwerdestelle genutzt oder zur Auftragsübermittlung und zur Abgabe von Verbesserungsideen verwendet. Die Key Accounts waren aber darauf bedacht den Kontakt zu „ihren“ Kunden in den Ländern zu behalten und wollten vermeiden, dass sich die Kunden direkt in der Zentrale meldeten. Vermutlich auch weil sie Informationsverluste fürchteten.
Die Qualitätssicherung machte End-of-Pipe Fertigungskontrollen. Eine Einbindung von QS-Technikern in die Produktentwicklung und Fertigung fand nur in Ausnahmefällen statt. Gemäß dem Ziel einer "Null-Fehler-Auslieferung" gab es auch Boni für gefundene Fehler. Das erklärte z. T. die selbstgewählte Firewall und der Vorrang von Bereichsinteressen gegenüber dem an dieser Stelle unklaren Unternehmensinteresse, was von den Führungskräften nicht gelöst werden konnte.
Die mangelhafte Innovationsdynamik in F&E wurde in ein eigenständiges Projekt ausgelagert mit dem Ziel, einen neuen Innovationsprozess zu erarbeiten.
Vertrieb
In den Ländern gab es von Key Account Managern geleitete Verkaufsbüros. Diese bestanden aus Sachbearbeitung(en) und einigen Telefon-Agents für Kundenkontakte, Auftragsabwicklung, Akquisition und Terminvereinbarungen für Besuche der Key Accounts.
Eine zentrale Vertriebssteuerung am Firmensitz erfasste die Aufträge aus den Länderbüros und gab sie an die Fertigung weiter. Rückmeldungen von dort gab es nur in Form von negativen Aussagen, wenn die Produktion nicht machbar war (der Vertrieb machte den Kunden oft Zusagen die zeitlich kritisch waren). Ferner wurden Statistiken (Woche, Monat, Quartal, Jahr) erstellt. Zur Preissetzung und Angebotskalkulation gab es Aussagen über den Umweg zum Zentralcontrolling, von wo aus vor Preiszusagen das Okay kommen musste.
Zentrale Dienste
Die klassischen Abteilungen, Personal, Rechnungswesen, Finanzen, Controlling, IT etc. Diese wurden nicht weiter betrachtet, da sie für die definierten Probleme nachrangig waren. Einzelne Mängelthemen wurden an die Fachbereiche adressiert (z. B. Betriebsklima und die Bewertung in den sozialen Medien an die Personalabteilung). Eine Ausnahme war das Zentralcontrolling, da hier das Pricing (Angebotskalkulation) im Sinne einer „hoheitlichen“ Aufgabe durchgeführt wurde und damit eine Schnittstelle zu Fertigung und Vertrieb bestand. Damit sollte verhindert werden, dass der Vertrieb zu hohe Rabatte einräumte.
Stabsabteilungen
Diese lagen im direkten Zugriff der Geschäftsleitung. Marketing (3,5 MA), Stab Planung (3 MA), Länderkoordination (3 MA). In den kleinen Stabsabteilungen sollten auch jüngere Talente für weiterführende Aufgaben im Unternehmen entwickelt werden. In diesen drei Abteilungen zusammen betrug das ø Alter 29 Jahre (inkl. der „Leiter“), die ø Verweildauer im Job 1,5 Jahre, die üblicherweise mit der Kündigung seitens der Mitarbeiter endete. Mehr brauchte man nicht erfahren, um zu wissen, dass diese Abteilungen weder Durchsatz in der Firma hatten noch das die Mitarbeiter in ihren Jobs zufrieden waren.
Marketing führte wie in vielen B2B-Firmen ein stiefmütterliches Dasein. Es machte Prospekte, betreute die Website, verantwortete CI und CD, beauftragte Agenturen und entwickelte hin und wieder Aktionen für den Vertrieb. Dazu kamen Hilfstätigkeiten in der Organisation und Abwicklung bis hin zu Hotelbuchungen und dem Aufbau von Messeständen. Vieles davon war langweilig, trotz hoher Arbeitsbelastung.
Die Unternehmensplanung verantwortete die Strategie und steuerte den Planungsprozess (Quartal, Jahr, Mehrjahresplan) und die firmenübergreifende Aufgabenplanung. Die Abteilung nahm die Planungen der Bereiche final ab und kommentierte sie. Die Jahres-Planungsmeetings mit Geschäfts- und Fachbereichsleitungen dauerten insgesamt eine Woche nur für die Fertigung und den Vertrieb. Die Arbeit daran wurde von den Bereichen mit „ständig“ angegeben (auch wegen der Quartalsplanungen).
Die Länderkoordination sollte die Verkaufsbüros unterstützen und als Schnittstelle zur Zentrale wirken. Seitens der Geschäftsleitung wurde aber vor allem Wert auf die Kontrolle der Aktivitäten der Länderbüros gelegt. Den eher allgemein gehaltenen Aufgaben und Stellenbeschreibungen standen die faktischen Tätigkeiten als „Mitarbeiter für dies und das“ gegenüber (erweiterte Assistenztätigkeiten und Sonderaufgaben). Im Unternehmen wurden die Mitarbeiter als „Wachhunde“ gesehen, sie selbst fühlten sich als „Ausputzer“ für alle möglichen Mängel. Anfragen der Koordinatoren an andere Bereiche wurden dort als Störung empfunden.
Wir erarbeiten gemeinsam Lösungen
Unter der Nebenbedingung, die Organigramm-Struktur der Firma im Kern vorerst zu erhalten, wurden Vereinbarungen zum weiteren Vorgehen getroffen. Der Fokus lag auf den Problemfeldern "Zusammenarbeit" und "Kundenorientierung", konkretisiert an:
- Unternehmenssteuerung, Zeitverbrauch, Kontrollen, Qualität des Planungsprozesses, ad hoc Maßnahmen, Themen ohne Fokus
- zu wenig Zeit für die Kunden, keine Innovation, zersplitterte Entscheidungen und kein gleichgerichtetes Verhalten in der Leitungsebene, unklare Ziele
Ein agiles Kundenteam entscheidet
Da die Kunden am liebsten beim technischen Support anriefen oder Mails schickten, konnte hier der wichtigste Kontaktpunkt überhaupt eingerichtet werden, an dem alle Kundenanliegen ganzheitlich behandelt werden. Der Anspruch „für die Kunden da zu sein“, bekam ein konkretes Gesicht in Form des „Kundenteams“, das ohne Schnittstellen kompetent und entscheidungsfähig die Kundenbeziehung vollumfänglich abdeckte. Das Kundenteam entscheidet über:
- was wird produziert und wann
- Angebotserstellung inkl. Pricing
- Kapazitäten und Investitionen
- Vorschläge, was entwickelt werden soll
- Ausbildung und Weiterbildung
Die Akteure kannten sich aus den bisherigen arbeitsteiligen Tätigkeiten. Jetzt bildeten sie gemeinsam eine „Abteilung“ und tauschten ihr wechselseitiges Wissen aus. Das Team setzte sich selbst Ziele (später gab es ein eigenes Anreizsystem) und entwickelte ein Verständnis für die Gesamtaufgabe. Räumlich wurden die Mitarbeiter zueinander gebracht. Es gab einen Meeting-Point mit Whiteboard für den täglichen Austausch oder für spontane Treffen. Weitere feste Treffen ohne Tagesordnung waren ein wöchentliches Meeting (was ist zu tun?) und ein Monatstreffen (was war gut, was war schlecht?).
Das Team ist auf dem besten Weg zu einem echten Kundenmanagement.
Warum das funktionierte
Das Kundenteam kommuniziert mit den Kunden, lädt diese fallweise ein oder besucht sie, um mit den Technikern und Ingenieuren über die Produkte zu sprechen, sich über Ideen, Wünsche und Neuerungen auszutauschen und um Probleme lösen. Damit wurde die Kundensicht „an die Maschine gebracht“.
Größere Aufträge konnten viel präziser vorbesprochen werden (Customizing) um dann mit hoher Verbindlichkeit zugesagt zu werden. Aus dem Zentralcontrolling wurde ein Mitarbeiter für die Angebotskalkulation und das Pricing an das Team abgegeben. Da die Key Account Manager in den Ländern viel besser um die Lage der Kunden wussten, konnten sie das Instrument Preispolitik (Preise, Zahlungsziele, Rabatte) jetzt in Verbindung mit Lieferterminen oder Zeitfenstern nutzen, was auch für die Kunden sehr interessant war.
Das Team beratschlagte gemeinsam was für einen Auftrag zu berechnen war und wann produziert würde. Da das Team insgesamt von der Richtigkeit der Entscheidungen überzeugt sein musste, gab es keine verlustbringenden Ausreißer. Das agile Kundenteam löst alle Aufgaben und Entscheidungen rund um den Kunden und benötigte keine Schnittstelle mehr.
Führung, Planung und Kontrolle
Das bisherige komplexe Planungsprozedere wurde für die Fertigungsbereiche und den Vertrieb abgeschafft. Stattdessen erstellen die Bereiche „kurz-und-knackig-Planungen“ (orientiert an Leitsternvorgaben der Geschäftsleitung), die im Planungsstab verdichtet und mit einer Roadmap abgeglichen werden. Die Geschäftsführung hat jederzeit einen Überblick über Budgets, Projekte und die Produktion und kann den Ressourcenbedarf abschätzen.
Erhalten blieben die automatisierten Statistiken aus der Vertriebssteuerung und dem Zentralcontrolling. Ein Informationsdefizit kam nicht auf. Wenn die Geschäftsleitung Probleme mit Budgets sieht oder Kosten sparen muss, gehen diese Feedbacks zurück an die Bereiche mit der Bitte, Lösungen zu erarbeiten.
Die Länderkoordination wurde aufgelöst, die Arbeitskontrollen abgeschafft.
Die bisherigen drei Stabsabteilungen wurden zu einer Abteilung Unternehmensentwicklung zusammengefasst mir den Themengebieten: Markt-Kunde-Konkurrenz, Kommunikation, Strategie, Research sowie Markteintritte und Expansion. Dies geschah im Vertrauen darauf, dass ein agiles, sich selbst organisierendes Team aus fähigen und gut ausgebildeten jungen Leuten sich schon auf alle Fragestellungen zu organisieren weiß. Als agile Führungskraft wurde ein Mitglied der Geschäftsleitung bestimmt und gecoacht.
Damit war auch eine gute Ausgangslage für den laufenden Prozess der Digitalisierung entstanden
In mittelständischen Unternehmen gibt es meist wenig Neigung zu Großprojekten die die eigene Organisation betreffen. Vorschläge wie postmoderne oder gar evolutionäre Organisationsformen („Große Würfe“) führen hier ins Leere. Erfolgreich gewachsene Firmen wollen auch in schwierigen Zeiten nicht vom Kopf auf die Füße gestellt werden. Agilität im Mittelstand umzusetzen bedeutet, an den vorhandenen Strukturen anzuknüpfen. Die Aufstellung der Firma war gegeben und zu akzeptieren.
Die Digitalisierung beginnt in Unternehmen dort, wo die größte Wertschöpfung bzw. der größte Nutzen anfällt. Die benötigten Informationen für die vernetzte Zusammenarbeit im Kundenteam sind in der CRM, in Reporting-und Controlling-Tools oder einem ERP-System und in den Köpfen der Mitarbeiter zu finden. Diese können standardisiert verfügbar gemacht werden, um eine crossfunktionale Bearbeitung komplizierter oder komplexer Aufgaben zu ermöglichen. Digitalisierung zieht agiles Arbeiten nach sich, umgekehrt ist das nicht der Fall.
Fazit:
Durch die Anwendung agiler Prinzipien wurden konkrete Lösungen für die Kernprobleme
- Zusammenarbeit und
- Kundenorientierung
erreicht und erbrachten Zeitgewinne und schnellere Reaktionszeiten. Wesentlich war das Abspecken bei den nach innen gerichteten Selbstbeschäftigungsprozessen (= Streichung oder Verschlankung von Prozessen).
Dafür musste die Geschäftsleitung Autonomie an die Fachbereiche und das neue Kundenteam abgeben und auf deren grundsätzliche Lösungskompetenz vertrauen. Das agile Kundenteam erbringt einen neuen Wertschöpfungsprozess, um den herum die Digitalisierung stattfindet. Letztlich verbesserten sich auch Haltung, Kultur und der Umgang miteinander.