· 

Agil im Vertrieb: Eine agile Struktur in einem mittelständischen B2B-Vertrieb

Agiler Vertrieb: ein mittelständischer B2B-Vertrieb mit agilen Elementen und Methoden
Agil im Vertrieb

Anonymisierte Fallstudie: Kaum ein Bereich scheint weniger geeignet zu sein für agile, sich selbst organisierende Teams als von Einzelkämpfermentalität geprägte Vertriebe. Das es doch geht, zeigt unser Praxisbeispiel aus einer mittelständischen Vertriebsorganisation.

 

von Andreas Karutz


Agilität im Vertrieb ist keine Magie

Ausgangslage

Der Vertrieb war organisiert in drei Regionalleitungen mit mehreren Verkaufsgebieten (VG) zu jeweils zehn bis zwölf Bezirksleitungen (BL). Verkauft wurde ein Bündel an technischen Komponenten, Einzelteilen und Services, die in der Produktion und im Handwerk verwendet werden. Neben dem persönlichen Vertrieb gab es eine E-Commerce Plattform mit einem PIM-System und einem Online Shop plus Online Katalog. Die Nutzung der Plattform war in den letzten Jahren beständig gestiegen. In der Akquisition kleinerer Kunden ist die Plattform der wichtigste Gewinnungsweg geworden. 

In der Außendienstorganisation gab es eine beständig hohe Fluktuation bei den Bezirksleitern (BL), was in der Führung als zunehmend störend und der Zielerreichung abträglich angesehen wurde. Trotz vereinzelt erkannter und bekannter Gründe standen die Regionalleitungen dem Thema ratlos gegenüber. Die üblichen materiellen Hebel und Goodies, um Mitarbeiter bei der Stange zu halten, hatten angesichts eines freundlichen Arbeitsmarktes für Außendienstler ihre Wirkung eingebüßt.

Analyse

Das Gehalt eines BL setzte sich zusammen aus einem Fixum (inkl. anteiliger Fixprovision für den vorgegebenen Umsatz = 100%) plus Boni für Übererfüllung und dem Platz in der firmeninternen Rangliste. Die Ranglistenplatzierung ergab sich aus einem errechneten Punktwert aus mehreren KPIs (Anzahl besuchter Kunden, akquirierte Neukunden, Umsatz, Verkaufsabschlüsse und gefahrene Kilometer als Ausgleich für den Zuschnitt der Bezirksleitungen) und wurde im Intranet der Firma veröffentlicht. Das erzielbare Gehalt war marktüblich, die Stimmung nicht.

 

Die zentrale Verkaufssteuerung machte Vorgaben für Kundenbesuche, Abschlüsse und Umsatz und kontrollierte diese. Sie informierte die BLs auch über potenzielle Neukunden im Gebiet auf Basis eigener Recherchen (i. w. nur Branche, Anzahl Mitarbeiter und Umsatz).

 

Es fanden Beraterinterviews mit den acht BLs des zuvor ausgewählten Pilot-Verkaufsgebiets statt, mit folgenden Ergebnissen:


Die strikt auf Einzelleistungen und deren Messung fixierte Organisation stand einem kooperativen Arbeiten diametral entgegen. So erbrachten bspw. die jährlichen Verkaufstagungen keine Impulse für die Arbeit der BLs im Sinne von Best Practices, da sich die Kollegen untereinander ungern über erfolgreiche Praktiken austauschten. Aus beratender Sicht war das aufgrund der Ranglistenkonkurrenz nachvollziehbar, schließlich hat kein BL ein Interesse an der Weitergabe wertvollen Wissens an seine internen Konkurrenten.  

Unser Job

Wir hielten einen problemorientierten Vortrag basierend auf den Erkenntnissen und lieferten - angelehnt an die bestehende Organisation - allererste Skizzen für agile Lösungsansätze, um konkret diskutieren zu können. Bei aller grundsätzlichen Neugier und Offenheit überwog seitens der Vertriebs-Führungskräfte die Skepsis. Der im Vortrag vorgeschlagene Verzicht auf Vorgaben und Kontrollen bezüglich der Zeitallokation der BLs wurde als "unmöglich" eingeschätzt. Das es trotz aller Einwände zum agilen Projekt kam, entsprang der eher fatalistischen Einstellung von "Wenn uns nichts Besseres einfällt, können wir es ja mal versuchen".

 

Wir erarbeiteten eine Berater-Lösung für eine veränderte Führung und Organisation auf Basis agiler Prinzipien. Eine Lösung am „grünen Tisch“ schien uns angesichts der Ausgangslage geeigneter zu sein als ein Workshop mit allen Beteiligten, der aus Beratersicht zu nichts führen würde. Skepsis und wechselseitiges Misstrauen waren zu tief verinnerlicht. In diesem Sinne erging die Empfehlung, unter begleitendem Coaching loszulegen und Feinjustierungen „unterwegs“ zu erarbeiten. Dieses wurde den BLs des pilotierten VG, dem verantwortlichen Vertriebsgebietsleiter und den Regionalleitern vorgestellt. 

Das Projekt als Insel

Entsprechend unseres Beratungsansatzes der Insellösung wurde für die Pilotierung eines der „völlig zerschossenen“ Verkaufsgebiete ausgewählt, in dem nur noch acht Bezirksleiter tätig waren (bei vier Vakanzen).  

Die Lösung

Die Bezirkseinteilungen entfallen, das pilotierte Verkaufsgebiet (VG) wird von den acht BLs gemeinschaftlich als Team bearbeitet (Agile Sales Team, AST). Vorgaben aus der Verkaufssteuerung dazu gibt es keine. Das neue Agile Sales Team ist gehalten, sich selbst zu organisieren und über die Kundenbearbeitung des VGs zu entscheiden. Für die ersten Wochen der Transformation soll das Team begleitend gecoacht werden. Das Gehalt wird auf Basis 100% garantiert, d.h. es wird gezahlt auch wenn gar nichts verkauft werden würde.

 

Um die Rolle einer agilen Führungskraft anzunehmen – neben der auch weiterhin „klassisch“ geführten restlichen Regionalleitung – wird der betreffende Verkaufsgebietsleiter einmalig geschult und es gibt jeden Monat ein Feedback-Gespräch und Telefonate bei Bedarf.

 

Die Reaktionen auf den Vorschlag reichten von Erstaunen bis Zweifel und waren damit nicht viel anders als nach dem initialen Vortrag. Ein Zögern gab es bei den BLs, die einander zwar als Kollegen kannten, aber damit vor allem Konkurrenz und keinesfalls ein Team verbanden. Nach einigen Stunden der Diskussion wurde der Vorschlag angenommen. 

Ergebnisse: So hat es funktioniert

Das Team

Mit der Einführung des Agile Sales Teams (AST) standen die acht BLs (5m, 3w) nach eigenem Bekunden wie der „Ochse vorm Berg“. Da ihnen niemand mehr Vorgaben machte und keiner Rechenschaft verlangte, hatten sie erhebliche Probleme ihre Arbeit zu organisieren. Also lernten sie sich erstmal untereinander kennen und sie lernten zu begreifen, dass die anderen Kollegen/innen jetzt keine Konkurrenten mehr waren, sondern mitwirkende Partner am eigenen Erfolg und dem Erfolg des Teams.

 

Den Teamerfolg zu definieren war die nächste Aufgabe. Natürlich hatte das vor allem mit den Kunden zu tun. Also redeten die BLs über ihre Kunden und erzählten einander von den jeweiligen Herausforderungen, ihren Erfolgshebeln, ihren Misserfolgen und wie sie damit umgingen. Als Nebenergebnis clusterten sie alle Kunden des VG und beschlossen, das gesamte „Herrschaftswissen“ – welches vorher in den jeweiligen Kladden der BLs war – in einer eigenen kleinen Datenbank abzulegen. Darin waren vor allem qualitative Informationen enthalten, z.B. welche Kunden kostenorientiert waren und nur auf den Preis schielten, welche Firmen an Innovationen interessiert sind, welcher Verantwortliche auf der Kundenseite welche Zusatzinformationen brauchte, um seine Entscheidung nach oben abzusichern, welche Kunden mit zusätzlichen Services bedient werden können und allgemein wie der Kunde tickte und welche Wünsche er äußerte, schließlich war man im Außendienst auch das Ohr zum Kunden.

Die Zusammenarbeit

Diese interne CRM war inhaltlich wesentlich reichhaltiger als die Standard-KPIs und (verzerrte) Aussagen enthaltende reguläre CRM. Zur technischen Umsetzung in MS-Access forderte das Team einen Mitarbeiter an, der das mit ein wenig hin und her (Struktur der Daten, einfache Gestaltung von Eingaben und Abfragen usw.) in ein paar Tagen machte. Es war kein großes Werk.

 

Die Gespräche über die Kunden im Kollegenkreis erbrachten verschiedene Erkenntnisse über erfolgreiche Kundenbearbeitung (Art der Vorbereitung, Besuchshäufigkeit und Termingestaltung, Informationsbedarf und Up-Selling Potenzial der Kunden) und Erfahrungen daraus. Es wurden erste Versuche für das Setzen von Standards in der Kundenbearbeitung gemacht, die sich am Kundenpotenzial und den Kundenbedürfnissen orientierten. Einige Stunden verwendete die Gruppe darauf, sich wechselseitig in Verkaufsgesprächen als Verkäufer / Kunde zu schulen. Das alles passierte in der ersten Woche, die vom Team als „magisch“ empfunden wurde, weil niemand reinredete und die BLs ohne Druck wie „freischaffende Künstler“ agieren konnten. Damit hatte das Team unbewusst ein erstes agiles Prinzip angewendet, nämlich das Menschen und deren Interaktionen mehr zählen als Prozesse.

Erfolge beim Kunden

In der zweiten Woche zog es jeden BL hinaus zu den jeweiligen Kunden. Trotz der garantierten Gehälter und der gewährten Freiheitsgrade in der Selbstorganisation fand das Team es hätte erstmal genug geredet und man müsse wieder verkaufen. Zum Ende dieser Woche wurde die angeforderte Datenbank fertig und jeder BL pflegte über das Wochenende seine Kladde ein und machte umfänglichen Eintragungen. Zum ersten Mal in der Geschichte der Organisation hatten Außendienstler ihr wichtigstes Wissen geteilt.  

 

Das AST verabredete sich zu einem Standardtermin an jedem Freitag – am Freitag wollten die meisten Kunden nicht besucht werden –, um sich Ziele für die nächste Woche zu setzen. Konkret das, was jeder einzelne BL in der Woche verbindlich schaffen wollte. Das geschah an einem Whiteboard. Die Visualisierung von einzelnen Aufgaben zeigte den Stand an und wohin das Team strebte. Es wurden z.B. besprochen: die Auswahl und Besuchsfolge von Kunden für die Vorstellung neuer Produkte, die geplanten Akquisitionen und die notwendigen Vorbereitungen dafür und welche Unterstützung nötig war. Diese gelebte Transparenz war weit mehr als eine Rangliste. Es brachte Klarheit für das Gesamtergebnis und sorgte für die Verbindlichkeit der Entscheidungen untereinander.

 

In den folgenden Wochen lernte das Team, dass ein Verkäufer nicht gleich ein Verkäufer ist, sondern dass sie unterschiedliche Talente besaßen. So kam z.B. ein BL besonders gut mit „knorrigen“ Kunden zurecht, während eine Kollegin „ein Händchen“ fürs Telefonieren besaß und die Kunden in für sie interessante Telefonate verwickeln konnte und überdies in der Akquisition immer an die Entscheider kam und schon im Erstkontakt Termine zu vereinbaren vermochte. Auch war die Fähigkeit kundenindividuelle Mails und Briefe  zu schreiben ungleich verteilt. Das Team begann voneinander zu lernen. Das AST bat die Führungskraft um einen Texter, der für jeden BL authentische Briefe formulieren konnte. Der VGL sorgte für Unterstützung durch einen Mitarbeiter aus dem Bereich Unternehmenskommunikation. So nutzte das Team die unterschiedlichen Vorlieben und Fertigkeiten, um auf Basis der geteilten Kundeninformationen und Erfahrungen zur Festlegung der Besuchspläne zu kommen und die Kunden untereinander neu aufzuteilen, und zwar unabhängig von ihrem jeweiligen Umsatzpotenzial. Es ging um die Maximierung des Teamerfolgs.  

 

Nach fünf Wochen hatte das Team das VG als eigenes kleines Königreich angenommen und begann es zu regieren. Die Kunden waren geclustert und strukturiert, Besuchshäufigkeiten, Art der Angebote und Betreuungs- und Informationsbedarf festgelegt und in Besuchspläne für jeden BL überführt worden. Die Teammitglieder lernten und reflektierten im laufenden Geschäft.

 

Ein weiterer gemeinsamer Termin im Haus für jeden Monat wurde eingerichtet. Geladen waren auch der Regionalleiter plus Supporter aus dem Haus und das Produktmanagement. In diesem Meeting fiel vor allem immer ein Satz: „Ich habe eine Idee für…“. So bot das Team an, kleinere Kunden in den Online Shop zu migrieren und entwickelte Ideen und Hebel dafür (befristete Sonderkonditionen wie „Umstiegsprämien“, kundenindividuell angereicherte Newsletter, kundenindividuelle Briefe vom BL an den jeweiligen Entscheider in den Kundenfirmen). Und das, obwohl zu dem Zeitpunkt noch die Umsatzverlagerung in den Online Shop den eigenen bonifizierten Umsatz des Teams reduzierte. In einer Abwägung von eigenem Aufwand und geschätztem Kundenpotenzial legte das Team eine Grenze fest und sortierte die zu migrierenden Kunden aus, um potenziell ertragreichere Kunden besser betreuen und ausschöpfen zu können (es ging um rund 20% der Bestandskunden des VG).

Eine krisenfeste neue Struktur

Nach neun Wochen gab es eine Kündigung. Ein BL hatte eine besseres Angebot von einem anderen Unternehmen bekommen und für sich beschlossen, dass er weiterhin als Einzelkämpfer nach den klassischen Regeln arbeiten wollte. Die verbleibenden BLs machten zu siebt weiter.

 

Im fünften Monat erbrachte das 7er-Team die gleiche Umsatzleistung wie die früheren 12 BLs. Aus dem bisher nicht entwickelten Kanal ins Produktmanagement war ein Füllstrom an Informationen geworden. Ab dem sechsten Monat lag die Umsatzleistung beständig über dem früheren Schnitt. Aus dem vom Start zusammengewürfelten Team war ein echtes Team geworden, weil:

  1. die Teammitglieder einander zufrieden stellten,
  2. das Team seine Auftraggeber und Stakeholder zufrieden stellte,
  3. das Team beständig seine Fähigkeiten verbesserte, um gut arbeiten zu können und
  4. die Teammitglieder Anerkennung fanden.

Das hatte sich im Unternehmen rumgesprochen und es gab erste Bewerber aus anderen VGs direkt beim Agile Sales Team. 

 

In der Endstruktur bestand das AST aus folgenden Mitgliedern: 7 BLs, ein VT-Supporter und „Zahlenmensch“, ein MA für Termine, Rückfragen und allerlei Administration. In Summe neun Mitarbeiter. Fallweise Unterstützung zu IT, Kommunikation und Marketing holte sich das Team über die agile Führungskraft aus dem Haus.

 

Der Führungs- und Kontrollbedarf hatte sich drastisch reduziert, weil das AST wie ein Unternehmer im Unternehmen arbeitete und auch die Zahlen stimmten. Die Vorgaben aus der Verkaufssteuerung entfielen. Für die Umsatz- und Budgetplanungen des Hauses (Quartal, Jahr) machte das AST für sein VG eine Einschätzung der angestrebten Umsätze und Verkaufsabschlüsse in der Form von Zu- oder Abschlägen zum Vorjahr.  

Ein gutes Fazit

Üblicherweise steht ein agiles Team auch für eine interdisziplinäre Zusammensetzung und für Crossfunktionalität. Das war hier nicht geben. Aber selbst so scheinbar homogene Teammitglieder wie Verkäufer weisen genügend unterschiedliche Fähigkeiten und Präferenzen auf, um in Summe deutlich mehr aus der Gesamtaufgabe rauszuholen als individuelle Allrounder. Sicher ist diese Struktur nicht für jeden Mitarbeiter gleichermaßen geeignet. Ausgeprägte Einzelkämpfer, die sich im traditionellen Umfeld wohl fühlen und dort Erfolge haben, sollten nicht in ein agiles Team gebracht werden. Für diese Mitarbeiter muss die Führung Alternativen anbieten, das ist sinnvoll.